Was tun in langweiligen Vorträgen?

Sie sitzen in einem wenig interessanten Vortrag und langweilen sich. Kennen Sie das? Dann möchte ich Ihnen nun einen kleinen Zeitvertreib vorschlagen, der durchaus unterhaltsam, auf jeden Fall aber aufschlussreich sein kann.

Der zweite Vortragende – ein Gedankenspiel gegen Langeweile

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Vortrag, den Sie gerade mit Langeweile verfolgen, durch eine PowerPoint-Präsentation unterstützt. Das ist Ihre Chance, sich mit einem kleinen Gedankenspiel abzulenken: Stellen Sie sich vor, es gibt neben der Rednerin oder dem Redner einen zweiten Vortragenden. Dieser Co-Vortragende versteckt sich hinter der Präsentation und spricht zu Ihnen über die PowerPoint-Präsentation. Die Präsentation und damit der Co-Vortragende wird von der Rednerin gesteuert. Er ist also nur eine Marionette? Mit viel Glück sitzen Sie aber gerade in einem Vortrag, in dem sich zeigt, dass diese Marionette ein Eigenleben hat. Mir kommt dazu ein Beispiel in den Sinn: Ein verzweifelter Vortragender versteht nicht, weshalb die präsentierten Folien nicht seiner gewünschten Ordnung entsprechen. Er wendet sich in Richtung der Projektionswand und sagt: „Was macht er den jetzt?“ Wer ist also „er“?

Power Point – Unterstützung oder Konkurrenz?

Er, also der zweite Vortragende, kann eine Rednerin wohlwollend unterstützen, indem er beispielsweise eine Grafik präsentiert, die ihre Aussagen verdeutlicht. Wenn die Rednerin erklärt, dass sich eine bestimmte ökologische Investition nach 8 Jahren amortisiert, dann kann der Co-Vortragende den Amortisationszeitpunkt verdeutlichen, indem er eine Grafik präsentiert, die Kosten und Ertrag gegenüberstellt. Prima, solche kooperativen Partner wünschen wir uns. Wie oft aber kann der Co-Vortragende den richtigen Zeitpunkt nicht abwarten und präsentiert die Grafik schon vor der zugehörigen Aussage. Sie werden solche Situationen finden, wenn Sie Vorträge künftig als ein Zusammenspiel aus zwei Vortragenden betrachten. Und was passiert, wenn der zweite Vortragende seinen Einsatzzeitpunkt nicht abwarten kann? Er reißt der Rednerin das Heft aus der Hand. Er präsentiert das „Neue“ zuerst. Das Publikum betrachtet seine neue Information und verliert die Aufmerksamkeit für die Rednerin. Und die Rednerin? Ihr bleibt nichts anderes übrig, als das bereits Präsentierte ihres Co-Vortragenden zu kommentieren. Das Interessante, die geringe Amortisationszeit von acht Jahren, hat das Publikum aber nicht von ihr erfahren, sondern von ihrem Konkurrenten hinter der Leinwand.

Der Einstieg in den Vortrag: Wer stellt wen vor?

Dass viele Präsentationen mehr konkurrieren als kooperieren, zeigt sich oftmals schon gleich zu Beginn. Unsere Rednerin stellt sich vor: „Guten Tag, mein Name ist …“ Was denkt sich das Publikum? „Das wissen wir doch schon, an der Leinwand steht es.“ Und mehr noch: Die Leinwand verrät vielleicht sogar noch den Titel oder die Berufsbezeichnung der Rednerin, die sie selbst nicht nennt. Der Co-Vortragende ist von Anfang an präsent – auch wenn er meist nicht vorgestellt wird – und inszeniert sich zudem als jemand, der mehr verrät als die Rednerin. Ich habe das Gefühl, manch ein Redner und manch eine Rednerin haben innerlich schon vor dem Konkurrenten im Nacken kapituliert. Es fühlt sich ja auch seltsam an, sein Publikum mit „Guten Tag, mein Name ist Marcel Dräger“ zu begrüßen, wenn es direkt hinter einem in großen Buchstaben an die Wand geworfen wird. Die Auflösungen dieser Situation, die ich in Vorträgen beobachte, sind aber mindestens ebenso seltsam: „Guten Tag. Meinen Namen kennen Sie ja, der ist angeschrieben.“ Manche verlassen sich auch gänzlich darauf, dass der Co-Vortragende die Vorstellung übernimmt, und beginnen gleich mit dem Vortrag. Dabei ist es doch gar nicht so kompliziert, den Konkurrenten zumindest anfangs hinter einem schwarzen Bildschirm zu verstecken und die Ruhe und Aufmerksamkeit zu nutzen, sich alleine und persönlich beim Publikum vorzustellen.

Wer kennt die Gliederung besser – Power Point oder die Vortragende

Selbst wenn Sie bei der Begrüßung noch unschlüssig sind, wer in einem Vortrag den Ton angibt, spätestens bei der Vorstellung der Gliederung werden Sie es erkennen. Wer kennt die Vortragsstruktur besser? Testen Sie es: Nennt unsere Rednerin erst den Gliederungspunkt und lässt ihn dann zur Erinnerung an der Projektionsfläche erscheinen? Oder gibt der Co-Vortragende die Gliederungspunkte nacheinander vor, und die Rednerin liest sie zur Sicherheit nochmal vor? Wer die Hoheit über die Gliederung besitzt, wird besonders dann deutlich, wenn Rednerin und Co-Vortragender unterschiedlicher Meinung sind. Vielleicht erleben Sie gelegentlich die Situation, in welcher die Rednerin einen Aspekt während des Vortrags nennt, und der Co-Vortragende stur und völlig überraschend einen anderen Aspekt präsentiert. Beobachten Sie einmal genau, wer Recht behält und diese Konfrontation gewinnt.

Das Publikum ergreift Partei

Dem Publikum entgeht diese Konkurrenz von Rednerin und Co-Vortragenden nicht und es beginnt zu kontrollieren, wer in dem Nebeneinander zweier Vorträge die Oberhand behält. Eine klassische Situation ist die folgende: Der Co-Vortragende präsentiert einen Text, beispielsweise ein wichtiges Zitat. Weil das Zitat besonders wichtig ist, liest die Rednerin dem Publikum den präsentierten Text vor. Dann kommt es zu einer Abweichung des präsentierten und des vorgetragenen Textes. Wen macht das Publikum für die Abweichung verantwortlich?
Die Rednerin kann nur verlieren: Weicht sie vom präsentierten Text ab, dann hat sie sich verlesen. Dem Co-Vortragenden werden nur ganz offensichtliche Schreibfehler angelastet. Und was macht er dann? Dann zieht er sich plötzlich weit hinter die Projektionsfläche zurück und verweist darauf, dass ja die Rednerin für das Präsentierte verantwortlich sei.

Die Präsentation ist mächtig

Die Präsentation entwickelt sich zu einem wahren Zweikampf darum, wer zuerst die nächste Information preisgeben darf und von wem sie das Publikum wahrnimmt. Doch es ist der Kampf eines Davids gegen einen Goliath. Schon das Setting verrät, wer überlegen ist: Die Rednerin steht unten und im Vergleich zu der großflächig über ihr aufleuchtenden Präsentation erscheint sie klein und unscheinbar. Die Aufmerksamkeit gilt dem großen Schaufenster, in dem sich der Co-Vortragende präsentiert. Dessen wahre Stärke liegt darin, dass er das Publikum auf dem visuellen Kanal erreicht, der beim Menschen aus evolutionsbiologischen Gründen die mit Abstand beste Verbindung ins Gehirn hat. Das Gehör, welches die Rednerin anspricht, ist deutlich unterlegen. Und der Co-Vortragende nutzt seine Überlegenheit schamlos aus. Er präsentiert nicht nur Text, sondern greift auf die aufmerksamkeitsheischende und emotionale Kraft von Bildern zurück. Damit lässt er die Rednerin mit ihren Ausführungen jenseits der Präsentationsfläche zeitweise in Vergessenheit geraten. Hat sie sich die Aufmerksamkeit im Moment einer Sendepause des Co-Vortragenden wieder zurückerobert, kontert dieser mit einem neuen Titel in großen Lettern und einer komplexen Grafik, die die ganze Aufmerksamkeit des Publikums an sich reißt.

Der Vortrag wird zu einer Geschichte

Ich wünsche Ihnen viel Spaß in den nächsten Vorträgen, die Sie sich anhören dürfen. Mit dem kleinen Gedankenspiel wird jede Präsentation zu einer spannenden Geschichte und die Zeit verfliegt in Windeseile. Wer ist David? Wer ist Goliath? Und wer wird am Ende den Applaus des Publikums bekommen? Das Schöne an dem Gedankenspiel ist, dass man selbst aus den langweiligsten und uninteressantesten Vorträgen auf unterhaltsame Weise eine Lehre ziehen kann.
Und unsere Rednerin? Sie hat die Kraft und Überlegenheit ihres goliathesken Co-Vortragenden unterschätzt. In einem Moment großer Verzweiflung erinnert sie sich an die Steinschleuder, mit der David den Riesen an seiner verwundbaren Stelle traf. Die verwundbare Stelle ihres übermächtigen Konkurrenten auf der Leinwand ist dessen Abhängigkeit von der Technik. Also: Stecker raus und die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums genießen.